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Unfall beim Überholen eines Linksabbiegers – Wer haftet?

Unfälle beim Überholen eines Linksabbiegers sind leider keine Seltenheit. Wer aber haftet für die entstandenen Schäden? Wir erklären Ihnen, was Sie dazu wissen müssen.

1. Grundlegendes zur Haftung nach einem Verkehrsunfall

Verkehrsunfälle verursachen oft hohe Kosten. Dabei ist für die Haftung zwischen den beteiligten PKW-Fahrern entscheidend, wer den Unfall (stärker) verschuldet hat (§ 17 Abs. 1 StVG).

In der Praxis wird die Verantwortung regelmäßig aufgeteilt.

Beispiel: Ein Unfallbeteiligter haftet zu 60%, der andere zu 40%.

Dazu kommt es, wenn beide Parteien sich fahrlässig verhalten haben. Einen gewissen Anteil müssen aber oft auch Unfallbeteiligte zahlen, die sich selbst nichts zu Schulden kommen lassen haben (meist bis zu 20%). Grund dafür ist die sogenannte Betriebsgefahr des Fahrzeugs. Der Gesetzgeber will so berücksichtigen, dass von jedem Kraftfahrzeug eine gewisse Unfallgefahr ausgeht, selbst wenn der Fahrer alles richtig macht.

Wenn ausnahmsweise einmal keinem der Fahrer ein Verschulden vorzuwerfen ist, schlägt auf beiden Seiten zumindest die Betriebsgefahr der jeweiligen Fahrzeuge zu Buche. Manchmal spielt diese aber keine Rolle, weil der andere Fahrer so rücksichtslos gefahren ist, dass die Betriebsgefahr dagegen verschwindend gering erscheint. Dann haftet der Verursacher komplett.

Beispiel: Vorsätzlich oder grob verkehrswidrig verursache Unfälle.

2. Die Haftung des Linksabbiegers nach einem Unfall

Es ist eine alltägliche Situation im Straßenverkehr: Der vorausfahrende PKW bremst ab, blinkt eventuell und biegt links in eine andere Straße oder eine Einfahrt ein. Im Glauben, der PKW würde bloß halten, überholt der hintere PKW das vorausfahrende Fahrzeug und fährt in die Fahrertür des anderen.

Vermutung spricht für die Schuld des Linksabbiegers

Wenn es beim Linksabbiegen zu einem solchen Unfall kommt, spricht der sogenannte Beweis des ersten Anscheins regelmäßig für ein Verschulden des Linksabbiegers. Es wird also vermutet, dass der Linksabbieger verantwortlich ist.

Die genaue Haftungsquote richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Oft liegt sie für den Linksabbieger aber zwischen 60% und 70%.

Grund dafür ist, dass den Abbieger die sog. doppelte Rückschaupflicht trifft (dazu gleich mehr).

Der Linksabbieger hat vor Gericht nun zwei Möglichkeiten:

  1. Er legt dar und beweist, dass er gar nicht links abgebogen und der Unfall anders zustande gekommen ist. Dann greift die Vermutung nicht und jede Partei muss gleichermaßen beweisen, dass der andere schuld war. Oft sind dafür aufwändige Sachverständigengutachten nötig.
  2. Steht fest, dass der Fahrer zuvor links abgebogen ist, kann er die Vermutung erschüttern. Dafür muss er darlegen und beweisen, dass eben kein „klassischer“ Linksabbiegerunfall vorlag. Er hat z.B. vorzutragen, dass er alle Sorgfaltspflichten gewahrt hat und der Unfallgegner im hohen Maße verkehrswidrig gefahren ist. Das kann unter Umständen schwierig sein, denn Tatsachen wie ein Schulterblick oder ein gesetzter Blinker lassen sich im Nachhinein nur schwer beweisen. Der Linksabbieger ist daher oft auf Zeugen angewiesen.

Pflichten des Linksabbiegers

Der Linksabbieger muss

  • sich möglichst früh links einordnen,
  • seine Geschwindigkeit verringern und
  • den Blinker nach links setzen.

Zudem trifft ihn die doppelte Rückschaupflicht und er muss im Rückspiegel und mit einem Schulterblick den nachfolgenden Verkehr beobachten: Zuerst beim Vorbereiten des Abbiegevorgangs und erneut unmittelbar vor dem Einschlagen des Lenkrads. Dadurch kann er nämlich meist erkennen, ob ein anderes Fahrzeug zur Überholung ansetzt. Sieht er ein potentiell überholendes Fahrzeug, muss er dieses erst passieren lassen, bevor er abbiegt.

Beispiel: Ein Autofahrer fährt hinter einem kleinen LKW, der seine Geschwindigkeit verringert. Der Autofahrer setzt den Blinker, blickt über die Schulter und überholt den LKW. Auf gleicher Höhe schert der LKW aus, um links in eine Einfahrt abzubiegen. Es kommt zum Unfall.
 
Hier sah das Gericht das Verschulden des LKW-Fahrers durch den Beweis des ersten Anscheins belegt. Es fehlte an einer eindeutigen Ankündigung des Abbiegens und an der doppelten Rückschau. Der LKW-Fahrer konnte dies nicht entkräften (LG Hamburg, 23.01.2015 – 302 O 220/14).

Aber: Die zweite Rückschau ist unter besonderen Umständen nicht notwendig. Das kann dann der Fall sein, wenn ein Überholen zum Zeitpunkt des Abbiegens fahrtechnisch gar nicht möglich oder grob verkehrswidrig wäre. Dann muss der Abbieger nicht mit einer Überholung rechnen und der Anscheinsbeweis greift nicht. In diesen Fällen greifen die gewöhnlichen Darlegungs- und Beweisregeln. Das heißt: Beide Parteien müssen gleichermaßen beweisen, dass die andere Partei Schuld war.

Beispiel: Ein PKW überholt sechs andere PKW, die längst hinter dem Linksabbieger zum Stehen gekommen sind. Beim Abbiegen kollidiert das Fahrzeug mit dem Linksabbieger (OLG Frankfurt a.M., Az.: 21 U 131/87).
 
Hat der Linksabbieger hier seine doppelte Rückschaupflicht missachtet, wird sein Verschulden deshalb trotzdem nicht vermutet. Beide Parteien müssen gleichermaßen beweisen, dass die andere Partei Schuld war.

3. Die Haftung des Überholers

Trotz des Anscheinsbeweises trifft auch den überholenden Fahrer oft eine Mitschuld.

Auch für den Überholer ist Vorsicht geboten

Missachtet der Überholer seine Pflichten beim Überholvorgang, ist er zumindest teilweise schuld an dem Unfall. Auch beim Überholen schreibt das Straßenverkehrsrecht vor, dass der Fahrer besonders sorgfältig vorgehen muss und andere Verkehrsteilnehmer nicht gefährden darf.

Hinzu kommt – wie bereits erläutert – regelmäßig eine gewisse Mithaftung bereits durch die Betriebsgefahr in Betracht.

Unklare Verkehrslage

Insbesondere kann es sein, dass zum Zeitpunkt des Überholmanövers eine unklare Verkehrslage vorherrscht. Das kann an den anderen Fahrzeugen, insbesondere natürlich am vorausfahrenden Abbieger, liegen, aber auch an den Umständen der Straße oder der Witterung. Kann der Fahrer eine solche Situation nicht einschätzen, darf er nicht überholen. Verstößt er dagegen und überholt trotzdem, haftet er mindestens teilweise.

Beispiel: Ein Motorradfahrer fährt innerorts hinter einer Fahrzeugkolonne, die ihre Geschwindigkeit verlangsamt. Voraus liegt eine schlecht einsehbare Linkskurve. Links der Straße liegt eine Einfahrt zu einem Grundstück. Das erste Fahrzeug der Kolonne hat den Blinker nach links gesetzt, was für den Motorradfahrer aber nicht zu sehen ist. Der Motorradfahrer beginnt mit überhöhter Geschwindigkeit den Überholvorgang, um noch schnell die Kolonne hinter sich zu lassen. Vorne kollidiert er mit dem ersten Fahrzeug, dass in das Grundstück einbiegen will.
 
Hier ist eine unklare Verkehrslage gegeben, sodass der Motorradfahrer mit dem Überholmanöver grob fahrlässig handelt. Zum einen ist bei einer Kolonne nicht sofort klar, warum die Geschwindigkeit verringert wird. Daher ist zunächst Vorsicht geboten. Aufgrund der bevorstehenden Kurve ist für den Motorradfahrer auch nicht zu sehen, ob Gegenverkehr kommt. So kommt sein Manöver einem „Blindflug“ gleich. Aufgrund der überhöhten Geschwindigkeit steigt die Gefahr zusätzlich. Deshalb sah das Gericht hier den Motorradfahrer in der Haftung, da er trotz unklarer Verkehrslage überholte. Bei einer Kolonne greift zudem der oben beschriebene Anscheinsbeweis nicht und die Betriebsgefahr des Linksabbiegers tritt zurück, sodass der Motorradfahrer vollständig haftet (OLG Dresden, Urteil vom 18.02.2015 – 7 U 1047/14).

4. Unfall beim Überholen eines Linksabbiegers: Einzelfälle

Für die Haftungsverteilung nach dem Überholen eines Linksabbiegers kommt es maßgeblich auf den konkreten Fall an. Eine pauschale Aussage, welcher Beteiligte in welchem Umfang haftet, ist nicht möglich.

Einige Konstellationen kommen allerdings vermehrt vor und ähneln sich:

  • Bei einer Kollision zwischen Überholer und einem langsam fahrenden Autofahrer (kein Blinker gesetzt), der vor dem Linksabbiegen die zweite Rückschaupflicht versäumt hat, ist eine Mithaftung des Überholers von einem Viertel angemessen (OLG Schleswig, Az. 9 U 18/92).
  • Wenn ein Traktorfahrer beim Linksabbiegen die Rückschaupflicht missachtet und der ordnungsgemäß überholende Autofahrer aufgrund eines Ausweichmanövers gegen einen Baum fährt, haftet der Linksabbieger zu 100% (OLG München, Az. 10 U 1012/19).
  • Auf einer geradlinigen Straße, auf der 70 km/h erlaubt sind, bremst ein PKW ab und biegt links in eine Einfahrt ein. Der hintere PKW überholt trotz durchgezogener Linie. Ob der Linksabbieger vorher geblinkt hat, lässt sich nicht mehr ermitteln. Das OLG Düsseldorf (I-1 U 86/17) hält in diesem Fall 50/50 für angemessen. Es wendet den Beweis des ersten Anscheins nicht an, weil der hintere Fahrer trotz Überholverbots und bei unklarer Verkehrslage überholte.

5. Fazit

  • Bei Unfällen mit Linksabbiegern gilt zunächst ein Anscheinsbeweis für das Verschulden des Linksabbiegers, sodass dieser überwiegend haftet.
  • Der Anscheinsbeweis kann aber entkräftet werden, wenn der Überholer fahrlässig handelte, insbesondere wenn er trotz unklarer Verkehrslage überholte.
  • Wenn der Linksabbieger aufgrund der Verkehrslage nicht mit einem Überholen zu rechnen braucht, haftet unter Umständen sogar der Überholer komplett.
  • Die genaue Haftungsquote hängt sehr vom Einzelfall ab. Oft liegt sie bei 60-70% zulasten des Linksabbiegers.